|     (c) DIE ZEIT 03.04.2003 Nr.15 
                   
WISSEN
              
Was Hänschen lernt
              
Die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern erforscht, wie Kinder sich Wissen
aneignen
              
Von Reinhard Kahl
              
Ärzte trinken Pipi.“ Große Heiterkeit in der Cafeteria des Berliner
Max-Planck-Instituts
              
für Bildungsforschung. Ein Vater zitiert seinen dreijährigen
Sohn, der wegen einer
              
Blasenentzündung zum Arzt musste. Anschließend verkündete
er zu Hause die neue
              
Erkenntnis. „Ja, auch so lernen wir“, freut sich die Kognitionspsychologin
Elsbeth
              
Stern. Wer bisher Gläser nur mit Trinken in Verbindung gebracht hat,
schließt nach der
              
Urinprobe auf sonderbare Gewohnheiten bei Ärzten.
              
Lernwege verlaufen häufig krumm. Aus eigenen Entdeckungen und über
die Korrektur
              
von Fehlschlüssen, aus Versuch und Irrtum, entsteht Wissen. „Das ist
kein Eintrag im
              
Lexikon, der kopiert und abgespeichert wird, sondern eine Verknüpfung
im Gehirn.“
              
So lautet die Hauptthese von Elsbeth Stern, die sie seit Jahren immer weiter
              
ausdifferenziert. Eine Forschungsgruppe, die sie am Max-Planck-Institut
für
              
Bildungsforschung leitet, ergründet, wie im Grundschulalter
              
mathematisch-naturwissenschaftliches Wissen aufgebaut wird und gefördert
werden
              
kann. So viel steht für sie fest: „Kinder können viel mehr, als
bisher angenommen
              
wurde.“
              
Die Geschichte mit dem Pipi zeigt allerdings nur eine Seite des Lernens.
Um nur mit
              
der Methode von Versuch und Irrtum das Schreiben, Lesen und die höhere
              
Mathematik zu lernen, bräuchte selbst ein Genie Millionen von Leben.
Also müssen die
              
Erwachsenen für Kinder Lerngelegenheiten schaffen, ihnen Angebote
machen und
              
von ihnen auch etwas verlangen.
              
In der deutschen Bildungsdiskussion dagegen wird entweder das eine oder
das
              
andere gefordert – entweder klarere Regeln und rigide Anforderungen oder
mehr
              
Freiheit im Unterricht für selbstbestimmtes Lernen. „Deutschland schwankt
zwischen
              
Kasernenhof und Freizeitpark“, bemerkt Stern. In einem „Lernlaboratorium“,
das ihr
              
das Max-Planck-Institut eingerichtet hat, versucht sie herauszufinden,
wie man den
              
Kindern das vermittelt, was sie usable knowledge nennt: verwertbares Wissen.
              
Ihr eigenes Wissen erwarb sich Elsbeth Stern, die sich selbst als Lehr-
und
              
Lernforscherin bezeichnet, zum großen Teil bei dem kürzlich
verstorbenen Nestor der
              
deutschen Lernforschung, Franz E. Weinert. An dessen Max-Planck-Institut
für
              
psychologische Forschung in München arbeitete sie sieben Jahre lang,
bis sie 1994
              
einen Lehrstuhl für pädagogische Psychologie an der Universität
Leipzig übernahm
              
und 1997 nach Berlin wechselte.
              
Auf dem Weg zu ihrem Lernlabor referiert Elsbeth Stern eine der Grundannahmen
der
              
Anthropologie: „Seit 40000 Jahren haben sich die Menschen biologisch nicht
mehr
              
verändert.“ Das heißt: Um Laufen, Sprechen und elementares Zählen
zu lernen,
              
reichen unsere biologischen Programme aus. Doch um all das zu erfassen,
was
              
unsere Kultur von der Erfindung der Null bis zur Quantentheorie hervorgebracht
hat,
              
brauchen wir kulturelle Lernprogramme, die unseren Kindern angepasst sind.
              
Um das zu erforschen, hantieren im Lernlabor Kinder im Grundschulalter
an einer
              
Balkenwaage. Experimentell erfahren sie hier, dass Teile aus Holz, Metall
und
              
anderen Stoffen gleichen Volumens die Waage unterschiedlich ausschlagen
lassen.
              
Sie kommt nur ins Gleichgewicht, wenn die Gewichte nach dem Umpacken verschoben
              
werden. Bleibt das Volumen der gewogenen Stoffe konstant und ändert
sich jedes
              
Mal das Gewicht, bekommen bereits Grundschüler einen Begriff von einem
Experiment
              
und eine Ahnung von den Koordinaten der x- und y-Achsen. Den Zusammenhang
              
zwischen Ausschlag und Gewicht herzustellen, sei es mit einem Gummiband
über
              
Nägel oder mit einem Stift auf Papier, ist dann kein so großer
Schritt mehr. Und schon
              
haben die Kleinen spielerisch eine lineare Funktion aufgezeichnet.
              
Deutsche Lehrpläne sehen lineare Funktionen erst für die achte
Klasse vor. Dabei
              
wird das System von x- und y-Achse so abstrakt präsentiert, dass bei
Schülern häufig
              
wenig hängen bleibt. Warum? „Weil nicht an Vorwissen angeknüpft
wird, weil man
              
immerzu bei null und zudem ganz abstrakt neu anfängt“, antwortet die
              
Lernforscherin. Vorwissen muss Schritt für Schritt aufgebaut werden.
Die
              
Balkenwaage ist ein Beispiel, wie die Intelligenz der Kinder stimuliert
werden kann.
              
Ähnliche Übungen hat Stern für physikalische Grunderfahrungen
mit Dichte, Kraft und
              
Masse entwickelt. 
              
Dabei müsse man auch falsche Vorstellungen der Kinder zulassen. Würden
sie nicht
              
artikuliert, könnten sie auch nicht korrigiert werden – und das aufgenommene
              
Schulwissen sei nicht wirklich sicher verarbeitet. Daher ist für Stern
der Umgang mit
              
Schwächen und Fehlern die Nagelprobe für die Intelligenz der
Schule. Dürfen sich
              
Schüler so zeigen, wie sie sind, ohne Nachteile zu befürchten?
Oder werden sie dazu
              
gebracht, so zu tun, als wüssten sie bereits, was sie doch erst lernen
sollen?
              
In der einklassigen Dorfschule, die Elsbeth Stern Anfang der sechziger
Jahre in
              
Hessen besuchte, war viel Spielraum für Fehler. Wenn die Klassen eins
bis neun in
              
der gleichen Schulstube sitzen, ist Frontalunterricht nicht möglich.
Stattdessen lernte
              
die Schülerin Stern damals von den Älteren, gab ihr Wissen an
Schwächere weiter
              
und lernte vor allem, dass jeder seine ganz eigene Art zu lernen hat. Zwar
will sie
              
nicht mehr zurück zur einklassigen Dorfschule. Aber sie setzt auf
Grundschulen mit
              
altersgemischten Klassen. Denn Verschiedenheit rege an, zumal die leistungsstarken
              
Schüler.
              
Eine der verbreiteten „Fehlvorstellungen deutscher Schulen“ sei, vorschnell
auf
              
Abstraktionen und Formeln zu setzen. Abstraktionen müssten aus der
Anschauung
              
aufsteigen und sich anschließend als brauchbares Instrument erweisen,
als usable
              
knowledge eben. Vor allem die Mathematik werde dagegen hierzulande als
eine Art
              
geistiges Bodenturnen zur allgemeinen Ertüchtigung verstanden. Da
würden den
              
Schülern fertige Formeln und Lehrsätze vorgesetzt, ohne dass
sich zugleich eine
              
praktische Anschauung im Schülerhirn bilde. Ergebnis: Am Ende habe
in Deutschland
              
fast kein Abiturient die Fähigkeit, selbstständig mit der Darstellung
einer linearen
              
Funktion umzugehen. „Die meisten wissen nicht mal, dass deren Steigung
der
              
Quotient aus y- und x-Achse ist.“
              
Woran das liegt, hat Stern in einer Langzeitstudie untersucht, die Lernverläufe
bei
              
mehreren hundert Kindern in Bayern über 15 Jahre verfolgte. Dabei
zeigte sich, dass
              
alle Schüler, die in der 11. Klasse in Mathematik gut waren, bereits
im zweiten
              
Schuljahr über mathematisches Verständnis verfügten. Bei
vielen Oberstufenschülern
              
war allerdings – trotz guter Grundschulkenntnisse – im Laufe der Schulzeit
der Faden
              
gerissen. Und bei keinem Schüler in der untersuchten Gruppe konnte
später korrigiert
              
werden, was in den unteren Klassen versäumt wurde.
              
Der „interessanteste Befund meines Lebens“ stammt aus einer Studie, die
Elsbeth
              
Stern mit dem Schweizer Fritz Staub durchführte. Die Forscher wollten
wissen, wie
              
sich die Mentalität der Lehrer auf das Lernen der Schüler auswirkt.
Verstehen Lehrer
              
Mathematik eher als korrektes Anwenden des zuvor Gelernten – oder als eigenen,
              
aktiven Konstruktionsprozess? Ergebnis: Schüler, die von ihren Lehrern
eher zum
              
konstruktiven Denken angeregt wurden, waren den anderen in Mathematik deutlich
              
überlegen.
              
Das Ergebnis findet Elsbeth Stern umso bemerkenswerter, als diese Art des
              
Mathematikunterrichts in deutschen Lehrplänen bisher kaum einen Platz
hat. Dabei
              
erzeuge gerade solches Vorgehen „intelligentes Wissen“ – also jene Aha-Erlebnisse,
              
die von Glücksgefühlen begleitet sind, auch wenn der Weg dahin
anstrengend war.
              
Das übliche Faktenwissen, das in deutschen Klassenzimmern dominiere,
sei dagegen
              
„träges Wissen“ – Lernbausteine aus separierten Wissenselementen,
die im
              
Schülergehirn keine Verknüpfungen mit zuvor Gelerntem anregen.
Dieses isolierte
              
Faktenwissen und ein Unterrichtsstil, der versuche, Wissen ohne Umwege
ins Hirn der
              
Lernenden hineinzukopieren (direct transmission view nennt das die Expertin),
bringe
              
das ganze Lernen in Verruf.
              
Die Folge ist eine Schülerhaltung, die Elsbeth Stern mit drastischen
Worten
              
charakterisiert: „Man geht zur Schule wie zum Zahnarzt und versucht, sich
vor dem
              
Schmerz zu drücken oder ihn zu ertragen.“
              
Elsbeth Stern sieht sich als Lehr- und Lernforscherin. Die habilitierte
Psychologin
              
untersucht in einem Lernlabor am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung
in Berlin,
              
wie man Kinder schon im Grundschulalter am sinnvollsten mit Mathematik
und
              
Naturwissenschaften vertraut machen kann. Eine ihrer Studien in deutschen
              
Klassenzimmern hat gezeigt: Wenn in den ersten Schuljahren falsch unterrichtet
wird,
              
lassen sich die fatalen Folgen für die Lernfähigkeit und das
Lernverhalten später nicht
              
mehr korrigieren 
                                                             
(c) DIE ZEIT 03.04.2003 Nr.15 
 
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